29. Januar 2008, 16:56 Uhr

FAMILIENTRAGÖDIE

Hinrichtung mitten in München

Von Julia Jüttner

Er lauerte ihr auf, zückte den Revolver und erschoss sie kaltblütig: Mitten in München hat ein 45-Jähriger die Ex-Frau seines Neffen getötet. Die 24-Jährige starb vor den Augen ihrer fünfjährigen Tochter. Danach richtete sich der Mann selbst. Was trieb ihn zu dieser brutalen Tat?

München - Wie jeden Tag bringt Emine S. auch heute Morgen um 8 Uhr ihre kleine Tochter in den Kindergarten. Was sie nicht ahnt: Servet S., der Onkel ihres Ex-Mannes, versteckt sich an einer Straßenecke, lauert ihr auf. Als die 24-Jährige mit der Fünfjährigen von der Schwanthalerstraße, wo die beiden leben, in die Ganghoferstraße einbiegt, stellt er sich ihr in den Weg, zielt mit einem sechsschüssigen Revolver auf Emine S. und drückt dreimal ab.

Dann wendet er sich ihrer Tochter zu, schießt ein- bis zweimal auf das Mädchen. Mit der letzten Kugel richtet sich der 45-Jährige selbst, er schießt sich in den Kopf. Augenzeugen - darunter ein neunjähriger Junge - müssen tatenlos zusehen, sie alarmieren die Polizei und kümmern sich um die Verletzten.

Der Notarzt kann Emine S. nicht mehr retten. Sie stirbt noch am Tatort, ihre Tochter und Servet S. kommen schwer verletzt ins Krankenhaus. Der Täter stirbt eine Stunde später. "Das Kind erlitt einen Brustdurchschuss. Es wurde operiert, schwebt mittlerweile nicht mehr in Lebensgefahr", sagt Polizeisprecher Christoph Reichenbach. "Das Mädchen wird durchkommen."

"Es handelt sich um eine dramatische emotionale Beziehungstat, die sich jederzeit und überall ereignen kann", sagte Josef Wilfling, Leiter der Mordkommission. Die Motive suchen die Ermittler in der Familiengeschichte des Opfers und des Täters: Beide lebten viele Jahre in Wuppertal. Emine S. war fünf Jahre lang mit Servet S.' Neffen verheiratet. Im Dezember 2006 lässt sich das Paar scheiden. Emine S. zieht im Januar 2007 mit der gemeinsamen Tochter nach München, wo sie Verwandte hat. Sie will Abstand gewinnen von der gescheiterten Ehe, ein neues Leben beginnen. Der Onkel ihres Ex-Mannes stellt ihr nach, wirbt um sie.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft München kommt es im April 2007 zu einem Ermittlungsverfahren: Servet S. hatte Emine S. und ihren Vater angezeigt. "Damals behauptete er, er habe von der Frau einen beleidigenden Brief erhalten. Als er ihren Vater damit konfrontierte, habe ihm dieser mit dem Tod gedroht", sagt Oberstaatsanwalt Peter Boie SPIEGEL ONLINE. "Die Frau und ihr Vater bestritten beides. Das Verfahren wurde eingestellt."

Nach den bisherigen Erkenntnissen bedrängt Servet S., ein nicht vorbestrafter Türke, der seit 1976 in Deutschland lebt, die 24-Jährigen weiterhin. "Angeblich hat sie seine Annäherungsversuche zurückgewiesen. Möglicherweise könnte deshalb als Tatmotiv verschmähte Liebe oder Eifersucht in Frage kommen", so Reichenbach. "Momentan werden alle Hintergründe untersucht. Vom derzeitigen Ermittlungsstand her gehen wir nicht von einem sogenannten Ehrenmord oder einem Auftragsmord aus."

Gülsen Celebi hegt daran ihre Zweifel. Die 35-jährige Rechtsanwältin aus Düsseldorf vertritt seit Jahren in erster Linie muslimische Frauen. Sie hat täglich mit ähnlichen Fällen gewalttätiger muslimischer Männern zu tun. "Ich glaube nicht, dass die Tat aus verschmähter Liebe geschah", sagt sie SPIEGEL ONLINE. "In diesem Kulturkreis ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Frau, die von ihrem Mann getrennt ist, innerhalb der Familie weiterverheiratet wird." Es gehe in solchen Fällen darum, die geschiedene Frau möglichst schnell wieder "unter die Haube" zu bekommen, damit sie der Familie keine Schande bereite. "Menschen mit dieser Einstellung vertreten die Meinung: Diese Frau ist und bleibt unser Eigentum - erst recht, wenn es ein Kind gibt", sagt Celebi.

Die Anwältin hält es daher für durchaus möglich, dass der Onkel nicht nur aus Zuneigung um Emine S. warb, sondern den Familienbund zusammenhalten wollte. "Deutsche Männer sind ihren Frauen gegenüber im gleichen Maß gewalttätig wie muslimische Männer", sagt sie. "Eine deutsche Frau jedoch muss in der Regel nur den Ehemann fürchten - eine Türkin dagegen muss die ganze Familie fürchten, wenn sie in patriarchalischen Verhältnissen aufgewachsen ist."

Emine S. hatte seit kurzem eine neue Beziehung, ebenfalls mit einem Türken. Hat das Servet S. zu seiner Tat bewogen? "Gegen Tote wird nicht ermittelt", sagt Oberstaatsanwalt Boie. "Trotzdem versuchen wir, alle Hintergründe aufzuklären. Gab es Hintermänner? Woher stammt die Tatwaffe? Sämtliche Beziehungen der betreffenden Personen müssen durchleuchtet werden. Da liegt noch viel Arbeit vor uns."


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