24. Januar 2008, 14:25 Uhr

OPFER DER JUGENDGEWALT

"Wir schlagen Dich, bis Du stirbst"

Von Lisa Erdmann, Sebastian Fischer, Florian Gathmann, Julia Jüttner, Anna Reimann und Leonie Wild

Die Jugendgewalt-Debatte dreht sich fast nur um die Täter - mit ihnen lässt sich Wahlkampf machen. SPIEGEL-ONLINE-Reporter trafen die Opfer. Der überfallene Münchner Rentner, ein niedergestochener 20-Jähriger, eine verprügelte Mutter - sieben Menschen sprechen über Angst, Gewalt und ihren schwierigen Neuanfang.

Berlin - Brutalität in Echtzeit: Zwei Männer prügeln einen Mann zu Boden. Einen Rentner. Treten noch zu, als er sich schon zusammenkauert. Solche drastischen Bilder sind selten. Die wenigsten Gewaltüberfälle in Deutschland sind mit öffentlichen Fotos einer Überwachungskamera dokumentiert - oft taugen die Taten darum nur zu kleinen Zeitungsmeldungen. Manchmal erfährt gar keiner davon, weil das Opfer nicht mal Anzeige erstattet.

SPIEGEL-ONLINE-Reporter haben Menschen besucht, die Opfer jugendlicher Gewalttäter wurden: den Münchner Rentner und viele andere, deren Fälle bisher nicht öffentlich wurden. Was passierte an dem Tag, der ihr Leben veränderte - während es für die Täter vielleicht nur eine Schlägerei von vielen war?


Fest steht: "Vorfälle wie in München gibt es bei uns jeden Tag", wie auch in anderen Großstädten, sagte der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), kürzlich zu SPIEGEL ONLINE. Jugendgewalt - Alltag in Deutschland. Eine willkürliche Auswahl:

Polizeistatistiken zufolge wächst die Zahl jugendlicher Tatverdächtiger bei Körperverletzungen - wobei viele Experten diesen Zuwachs darauf zurückführen, dass inzwischen einfach mehr Fälle angezeigt werden. Viele Praktiker beobachten allerdings, dass die Brutalität zugenommen hat. Der Polizei bereitet es besondere Sorge, dass die Täter immer öfter Messer dabei haben und sie einsetzen. Wolfgang Malik, Leiter eines Jugendzentrums: "Früher wurde gepöbelt, heute wird zugeschlagen, die Hemmschwelle ist klar gesunken."

"Die Wahrscheinlichkeit, Opfer von gewalttätigen Jugendlichen zu werden, ist nicht unbedingt größer als früher", sagt auch Veit Schiemann vom Opferschutzverband Weißer Ring. "Aber die Wahrscheinlichkeit, dass man an einen extrem brutalen Täter gerät, ist gewachsen." Der Ehrenkodex, nicht auf ein Opfer am Boden einzutreten, gelte schon seit Jahren nicht mehr.

"Es reicht schon mahnendes Ansprechen"

In Deutschland gehen die Behörden von insgesamt rund 3000 jugendlichen Intensivtätern aus, die mehr als zehn Straftaten pro Jahr begangen haben. Ihre Opfer sind meistens Gleichaltrige. Sie "ziehen sie ab", wie es in der Szene heißt - rauben ihnen Geld, Handy, Jacken, Schuhe. Sie drohen ihnen, sie prügeln auf sie ein.

"Dass Erwachsene angegriffen werden, ist eher selten und geschieht meist, wenn sie sich selbst in Beziehung zu den Tätern setzen", sagt Neuköllns Bezirksbürgermeister Buschkowsky. "Da reicht eben schon ein mahnendes Ansprechen."

Wie schwer es für die Opfer ist, mit ihrer Angst und ihrer eigenen Wut umzugehen, erfuhr SPIEGEL ONLINE bei der Recherche. Viele Opfer wollen nicht über ihre Erlebnisse reden, aus Angst, dass ihnen noch mehr passiert - oder sie wollen schlicht nicht mehr an den Vorfall erinnert werden. Andere möchten einfach ihre Namen nicht nennen, weil die Verfahren noch laufen. Alle berichten von Hilflosigkeit, vom Schock über die pure Gewalt, über ihre Verletzungen. Hätten sie sich wehren sollen, wehren können?

Sie suchen nach Erklärungen für die Tat - und finden keine, die ihnen hilft.

*Namen von der Redaktion geändert


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