15. Januar 2008, 17:07 Uhr

ERNEUTER U-BAHN-ÜBERFALL

"Du bist Opfer"

Von Julia Jüttner

Die Münchner Kripo ermittelt erneut in einem besonders brutalen Fall von Jugendgewalt. Auch diese Attacke, diesmal gegen einen jungen Mann, spielte sich in der U-Bahn ab - nur sechs Stunden, nachdem dort ein Rentner von zwei jungen Männern fast zu Tode geprügelt wurde.

München - Es ist drei Tage vor Heiligabend, als Julius B. - reichlich angetrunken - gegen 4.30 Uhr in der Frühe die Münchner U-Bahn-Station "Universität" anpeilt, die Rolltreppen ins Untergeschoss hinunterfährt und dort auf einen Zug Richtung Sendling wartet. Am Bahnsteig halten sich zu diesem Zeitpunkt zwei weitere junge Männer auf, man kommt locker ins Gespräch.

Fahndungsbild: Wer kennt den Mann mit der Sturmhaube?
Polizei München

Fahndungsbild: Wer kennt den Mann mit der Sturmhaube?

Währenddessen betreten zwei weitere Männer den U-Bahnhof, beide haben die Köpfe unter Kapuzen versteckt, einer hat sogar das Gesicht mit einer schwarzen Motorradmaske verhüllt. Auf dem Bahnsteig treffen sie auf die beiden anderen Männer, offenbar Bekannte, und Julius B. Die vier Bekannten begrüßen und unterhalten sich. Der Maskierte schiebt die Sturmhaube nach oben. Man spricht sogenanntes "Checkerdeutsch", Slang also, wie man ihn aus "Wasguckstdu"-Witzen kennt.

Plötzlich, grundlos und ohne Ankündigung, geht dann der eben noch Maskierte auf den Studenten los und brüllt: "Du bist Opfer!"

Wie von Sinnen prügelt er auf den 26-Jährigen ein: Erst auf den Kopf, dann auf den Oberkörper. Immer wieder rammt er sein Knie gegen den taumelnden Studenten. "Das Opfer wurde gut 30 Mal geschlagen und mit Kniestößen traktiert", so Kriminalhauptkommissar Rudolf Wagner.

Julius B. ist zu diesem Zeitpunkt wehrlos. Ein Alkoholtest ergibt später, dass er fast zwei Promille im Blut hat. Trotzdem versucht er, Distanz zu halten. Da schnappt sich der Angreifer eine herumstehende Bierflasche und rammt sie ihm zweimal gezielt ins Gesicht. Beim ersten Mal kann Julius B. noch ausweichen, die zweite Attacke trifft ihn an der linken Schläfe. Der Student erleidet Schnittverletzungen, kommt ins Krankenhaus, die Wunde muss genäht werden.

Der Täter wusste, dass er gefilmt wird

Sämtliche Überwachungskameras haben den Vorfall aufgezeichnet. Die Polizei geht davon aus, dass der Täter wusste, dass er gefilmt wird. "Er und sein Begleiter versuchen, ihre Gesichter unter ihren Kapuzen zu verbergen", sagt Wolfgang Wenger, Sprecher der Münchner Polizei, SPIEGEL ONLINE. "Es sei denn, sie tragen sie grundsätzlich auf dem Kopf."

Die drei Bekannten des Täters haben der Gewaltorgie nach Polizeiangaben teilnahmslos zugesehen. Der Angreifer und sein Begleiter stiegen nach der Attacke in die nächste U-Bahn, die sie den Überwachungskameras zufolge am Odeonsplatz wieder verließen. Dort verliert sich ihre Spur. Auch die beiden anderen Männer entfernten sich. Andere Studenten, die auf der gleichen Party wie Julius B. feierten, fanden den Verletzten und alarmierten die Polizei.

Dass sechs Stunden zuvor der pensionierte Schuldirektor Bruno N. fast zu Tode geprügelt und mit einem dreifachen Schädelbruch in eine Klinik eingeliefert wird, erfährt Julius B. erst viel später. Auch er wird das Video gesehen haben, das in Deutschland eine teils hysterisch geführte Diskussion über jugendliche Gewalttäter mit Migrationshintergrund auslöste.

Kriminalhauptkommissar Wenger mahnt denn auch eine genaue Differenzierung an. "Der Fall des Rentners hat eine ganz andere Dimension und ist mit dem des Studenten nicht vergleichbar", so Wolfgang Wenger. "Im Fall des Rentners ermitteln wir wegen versuchten Mordes. Im Fall des Studenten wegen gefährlicher Körperverletzung."

Die Polizei sucht dringend Zeugen

Obwohl Julius B. direkt nach dem Vorfall Anzeige erstattete, gaben Polizei und Staatsanwaltschaft den Vorfall erst jetzt bekannt. Die Beziehung zwischen Opfer und den anderen Beteiligten musste zunächst geklärt, Zeugen ermittelt und die Filme der Überwachungskameras ausgewertet werden. Zudem sei Julius B. direkt nach dem Überfall zu seiner Familie nach Wiesbaden gereist und erst kürzlich eingehend vernommen worden.

Trotz der beiden schockierenden Münchner Fälle: Horrorszenarien, wonach U-Bahn-Nutzer ihres Lebens nicht mehr sicher sind, halten der Statistik nicht stand, die Gewalttaten im U-Bahn-Bereich sind eher rückläufig. In den ersten neun Monaten des Jahres 2006 wurden 161 Fälle registriert, 2007 waren es 141. "Vermutlich gleichen wir uns jedoch dem Niveau des letzten Jahres an", so Wenger.

Nach derzeitigem Ermittlungsstand im Fall Julius B. hat der maskierte Täter vor dem Überfall keine Straftaten begangen, die bei der Polizei erfasst wurden. Die Polizei sucht weiterhin dringend Zeugen, die Angaben zu den auf dem Fahndungsbild abgelichteten Männern machen können. Rund 30 Anrufe sind bislang eingegangen. "Jeder Anrufer ist für uns eine Spur", sagt Wenger. "Oft ist eine Kleinigkeit ein Puzzlestück: Allein macht es keinen Sinn, aber mit anderen Aussagen zusammengefügt, ergibt es im Ganzen ein Bild."

Ganz klar sei, dass der nun bekannt gewordene Fall nie derart publik geworden wäre, hätte es den Überfall auf Bruno N. nicht gegeben. Das Thema Jugendgewalt ist virulent. Polizeisprecher Wenger: "Wenn in diesen Tagen jemand eine solche Tat begeht, hat es eine andere Dimension, als hätte er es im November getan."


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